Ich orientiere mich beruflich gerade neu. Was da genau hinter steckt, dazu irgendwann anders mehr.
Eine Richtung, die ich mir vorstellen könnte, ist mehr mit Menschen zu arbeiten. Also „irgendwas mit sozial“ zu machen. Unter anderem spukt die Idee der (humanistischen, säkularen) Seelsorge bzw. Lebenshilfe bei mir im Kopf rum. Am kommenden Wochenende findet das Hospiz Barcamp in Hannover statt, und ich dachte mir „Das ist eine gute Gelegenheit, mal näher ans Thema ranzukommen.“
Und da Hospizarbeit mit Tod und Sterben zu tun hat, finde ich es eine gute Idee, mich an ein paar ganz besondere Abschiede zu erinnern. Wie wir es vielleicht alle hin und wieder tun sollten, hoffentlich dankber für die Zeit, die wir mit diesen Menschen verbringen durften.
Die Namen der anderen Beteiligten habe ich geändert.
Bei uns zu Hause auf dem Dorf. Zweifamilienhaus. Erster Stock, auf dem Flur. Da steht einer dieser grünen 60er-Jahre-Sessel, ein Blumentopf und ein Besenschrank mit einem Spiegel dran. Meine Mutter sitzt auf dem Sessel und weint. Ich nehme sie in den Arm, tröste sie. Sie sagt: „Eigentlich sollte ich doch die sein, die dich tröstet.“ Meine Oma, ihre Mutter war gerade an Krebs gestorben.
Ich war sechs Jahre alt.
An einem Sonntag in meiner Zwei-Zimmer-Wohnung in Berlin-Spandau. Ich bekomme einen Anruf von der Theatergruppe. Wir sollen uns doch bitte alle um zwei im Park treffen.
Später im Park. Die Sonne scheint, alles ist grün. Nach und nach trudeln fast zwei Dutzend Menschen ein, keiner weiß, um was es geht. Wir stehen alle im Kreis auf dem Rasen. Dann kommt Benno, der uns gebeten hat zu kommen. Er wirkt kleiner, zerbrechlicher als sonst. Er erzählt, dass er mit Natascha klettern war. Und dass von einem Nachhintenschauen zum nächsten Natascha verschwunden war. Abgestürzt. Tot beim Aufschlag.
Zwei Wochen später. Eine wunderschöne Kapelle am Rande von Berlin. Nataschas Bruder spielt selbstkomponierte Lieder zu ihrem Abschied. Benno geht nach vorn und erzählt seine Geschichte mit Natascha. Wie sie ihm immer wieder im Laufe der Jahre begegnet ist. Wie sie immer wieder ein strahlendes Licht in seinem über lange Jahre verkorksten Leben leuchten ließ. Und wie sie schließlich zusammenfanden.
Eine wunderschöne, poetische Geschichte, geboren aus Trauer und vor allem aus Dankbarkeit.
Noch in Berlin bekomme ich auch wieder Kontakt zu Michael. Mit Michael hatte ich in Lingen Theaterpädagogik studiert. Ein lebensfroher, kreativer Mann Anfang dreißig mit einer riesigen Narbe auf der Brust. Er hatte schon als Kind Herzprobleme und bekam als Jugendlicher ein Spenderherz.
Als wir uns wieder trafen, war er gerade Vater geworden, nachdem er viele Jahre gezögert hatte, da er wegen seines Herzens immer Angst hatte, sein Kind nicht aufwachsen zu sehen. Er war zufrieden, glücklich.
Zwei Wochen nach unserem Treffen ging ich zum Briefkasten und holte eine Einladung zu einer Beerdigung heraus. Zu Michaels Beerdigung.
Am Wochenende treffen sich die Lingener Theaterpädagogen bei seinen Eltern in Süddeutschland. Ich treffe zum ersten Mal seine Frau und sein 3-monatiges Kind. Für mich neu, ist Michael im offenen Sarg in einer Kapelle aufgebahrt, damit wir persönlich Abschied nehmen können.
Ich zögere lange, in die Kapelle zu gehen: Ich habe außer im Museum nie zuvor einen Toten gesehen. Der Schritt über die Schwelle ist eines der schwierigsten Dinge, die ich bis dahin gemacht habe.
Michael liegt im Sarg, zugedeckt mit seiner Piratenflagge. Er sieht aus, als ob er schläft. Ich stehe da und schweige. Denke, „Michael, der Scherz ist vorbei. Du kannst jetzt die Augen aufmachen und rausklettern.“
Aber Michael macht die Augen nicht auf.
Wieder ein Briefkasten. Wieder eine Einladung zu einer Beerdigung, David diesmal. David? Wie konnte das sein? Dem ging es doch zum ersten Mal seit Jahren wieder besser?
David hatte schwere Jahre hinter sich. Nachdem er sich endlich aus seinem Bankjob verabschiedet hatte, um seinem Herzenswunsch zu folgen und Lehrer zu werden, kam der große Schock: MS.
Die Nervenkrankheit kam und ging in Schüben; es dauerte, bis er sie halbwegs unter Kontrolle hatte. Seine Freundin trennte sich, weil sie mit der Diagnose nicht klarkam. Dann traf er Maria, die die Situation aus vollem Herzen akzeptierte; sie selber hatte Epilepsie. Das Studium lief gut.
Dann wachte er eines morgens auf, Maria lag tot neben ihm. Die Umstellung ihrer Epilepsiemedikamente hatte wohl einen Krampf ausgelöst und sie war erstickt. Danach wurden auch Davids MS-Symptome wieder heftiger, er konnte Schulpraktika nicht antreten, weil er die Treppen nicht mehr bewältigen konnte; weil die Bushaltestelle zuweit von der Schule entfernt war.
Die Zeit ging ins Land und sein sehr engagierter Arzt fand eine neue Medikamtenzusammenstellung, die David wieder deutlich mobiler machte. Er konnte sogar wieder joggen. Eine seiner Professorinnen bot ihm eine Assistentenstelle für die Zeit nach dem Studium an. Nach Jahren des Ringens war wieder Luft zum Atmen.
Kurz vor Ende des Wintersemesters nahm er sich das Leben.
Es ist 2014. Im Herbst vorher bin in ein tiefes, dunkles Loch gefallen, aus dem ich nun endlich wieder draußen bin. Ich denke, ein Jahr aus dem Ausland zu arbeiten, das ist eine gute Idee. Ich löse meinen Haushalt in Hannover auf und ziehe für drei Monate zu meinen Eltern aufs Land, um von dort aus in aller Ruhe meine Zeit in Irland vorzubereiten.
Ich bin ein paar Wochen dort, da muss mein Vater zum Arzt, es geht ihm nicht gut. Er wird mit Krebs diagnostiziert. Glück im Unglück: Leberkrebs, da stehen die Chancen gut, die Sache mit einer Operation in den Griff zu kriegen.
Am Tag der OP sitze ich mit meiner Mutter zusammen in der Stube. Die OP ist auf drei Stunden angesetzt, nach einer klingelt das Telefon, das Krankenhaus. Meine Mutter weint schon, sie ahnt was kommt: Erst während der Operation wird sichtbar, dass der Krebs an der Leber schon ein gestreuter ist. Ursächlich ist es Gallengangkrebs.
Prognose: Maximal ein Jahr hat mein Vater wahrscheinlich noch zu leben.
Mein Vater beginnt Chemotherapie, meine Mutter ist immer an seiner Seite. Ich falle ins nächste tiefe Loch. Meine eigene Reise mit Depression und Therapie beginnt. Die Geschichte dieser Reise findet ihr aber an anderer Stelle hier im Blog.
Mein Vater verträgt die Chemo nicht gut, sie zeigt auch kaum Wirkung. Papa war nie ein großer Redner, aber er war immer präsent, war immer unser Fels in der Brandung. Dieser Fels wird über den Sommer immer weiter abgetragen.
Er, der immer gerne draußen war, immer gerne spazieren gegangen ist, verträgt die Sonne nicht mehr.
Er, der immer körperlich gearbeitet hat, kann kaum noch seinen Liegestuhl in den Schatten stellen.
Mein großer starker Vater wird immer kleiner, immer in sich gekehrter. Er redet nicht drüber, aber er muss höllische Schmerzen leiden.
Es tut mir weh, zusehen zu müssen und nichts tun zu können.
Ein Montagabend im Herbst. Meine Mutter ruft aus dem Krankenhaus an, indem mein Vater seit ein paar Wochen liegt. Wenn wir Papa noch einmal sehen, wollen, dann sollten wir jetzt unbedingt nach Göttingen kommen. Mein Bruder und ich fahren sofort los. Papa ist schon nicht mehr wirklich ansprechbar, trotz extrem hoher Schmerzmitteldosis stöhnt er immer wieder. Zum Abschied flüstere ich ihm noch zu „Mach dir keine Sorgen, wir kümmern uns um Mama.“ Am nächsten Tag stirbt er, unsere Mutter, seine Frau bis zur letzten Minute an seiner Seite.
Papa wurde eingeäschert, die Trauerfeier fand an seinem Geburtstag statt. Ich bat unseren Pastor, auch etwas vor der Trauergemeinde zu sagen. Auch, wenn das bei uns auf dem Dorf nicht üblich war.
Als ich vorne trat und in die Kapelle schaute, war ich überwältigt von den vielen, vielen Menschen, die gekommen waren, um Abschied zu nehmen. Meine Abschiedsrede zu halten, war die schwierigste Sache, die ich bisher in meinem Leben getan habe.
Und das hier habe ich gesagt:
Das hier sind meine ganz persönlichen Abschiedsworte, aber ich weiß, dass ich für meine ganze Familie spreche.
Willi. Papa. Ganz selten Herr Reineking. Und für ganz viele: Onkel Willi.
Es heißt, dass wir die Menschen für ihre Stärken respektieren, aber für ihre Schwächen lieben.
Papa, ich habe dich sehr respektiert und sehr geliebt. Aber vor allem bin ich dankbar.
Dankbar, für die Spaziergänge im Harz und im Rotenberg, deinem geliebten Wald.
Dankbar, für die Liebe zur See, die du mir gegeben hast.
Dankbar, für meinen ersten richtigen Kinobesuch und die lebenslange Liebe für fantastische Geschichten, geboren aus den vielen Abenden, die wir über die Jahre mit Musketieren, Korsaren, griechischen Helden und arabischen Seefahrern in unserer Stube verbracht haben.
Dankbar, dass du mich immer meinen Weg hast gehen lassen. Auch wenn du vielleicht nicht immer einverstanden war.
Dankbar, dass du Mama glücklich gemacht hat.
Dankbar für meinen Bruder.
Dankbar, dass du mich mit Holzfiguren, Bauchtanz und Tablet überrascht hast, wenn ich dachte, nichts kann mich mehr überraschen.
Dankbar, für all die Zeit und Kraft, die du in unser Haus, unser Heim, gesteckt hast.
Und ich bin dankbar für die Zeit, die wir diesen Sommer noch miteinander verbringen durften, schweigend oder redend. Beim Abendspaziergang, im Garten und am kleinen Tisch auf unserem Tritt.
Ich danke dir für mein Leben, deine Ruhe und Kraft und dafür, dass du hier warst.
Bildnachweis: Original von Free-Photos auf Pixabay
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Und jetzt bin ich dankbar, lieber Jens, dass du so berührende Worte gefunden hast und diese in so wunderbarer Weise teilst. Namaste.
Jens,wir kennen uns kaum persönlich …eher vom Hörensagen. Ein Großartiger Text hat er mich doch sehr berührt, zu Tränen.Dein Vater war ein großartiger Mann. Viele Parallelen sind in unseren Lebenswegen.
Ich denke der Weg in die Hospitzarbeit ist schwer doch wer könnte diese Arbeit besser machen,als jemand der immer wieder den Verlust durchlebt hat mit allen Gefühlen und die liebe zu Menschen nie verloren hat.Ich drücke Dir ganz doll die Daumen in den emotional bedeutendsten Job. den letzten Weg zu begleiten ,Jeden anzunehmen und den Weg mit zu tragen ist sehr intensive Arbeit und braucht viel Kraft…ich denke das du diese Keaft hast undwünsche Dir viele gute Begegnungen .Den eines ist klar am Ende verliert einiges aus dem normalen Alltag doch stark an Relevanz.Pass gut auf dich auf.